Übersicht
Unternehmen: Krankenhaus in Kanada
Ort: Kanada
Besonderes: Der Bericht erschien auf dem IWW nahe stehenden Blog organizing.work. Dort wird in regelmäßigen Abständen von Kolleg*innen über ihre Arbeitskampferfahrungen berichtet.
Jahr: April 2020. Während der Corona Pandemie.
Branche:
Erfahrungsbericht
Von Anonym.
Nach Aussetzung des Beschwerdeverfahrens wenden sich Arbeiter*innen im Gesundheitsbereich direkten Aktionen zu.
Eine anonyme Quelle beschreibt die direkten Aktionen, die Heimpflegekräfte in Ontario ergriffen, nachdem die Beschwerdeverfahren während des öffentlichen Gesundheitsnotstands ausgesetzt worden waren.
Am 17. März verhängte Premierminister Doug Ford in Ontario den Ausnahmezustand. Für die meisten bedeutete dies, dass sie sich nicht mehr in Gruppen versammeln konnten. Einkaufszentren und öffentliche Einrichtungen waren geschlossen, sie mussten zu Hause bleiben und sehen, wie sie ihre Rechnungen bezahlen und Lebensmittel kaufen konnten. Für das Gesundheitspersonal bedeutete dies noch weit mehr. Mit der Erklärung des Notstands wurden große Teile der Kollektivverträge im Gesundheitswesen ausgesetzt. Bestimmungen, die die Möglichkeiten des Arbeitgebers zur Änderung von Zeitplänen, Anweisungen, Arbeitsplätzen und Pflichten regeln oder einschränken, sind für die Dauer der Pandemie nicht mehr in Kraft. Alle Urlaube und Beurlaubungen wurden gestrichen, bis dahin, dass die Arbeitgeber*innen auf Nachfrage erklärten, sie seien der Meinung, dass sie gemäß des Notstands das Recht hätten, sogar einen Mutterschaftsurlaub zu streichen. Mit der Hinzufügung, dass Sie hoffen würden, es werde nicht so weit kommen.
Es gab viele Kollateralschäden an den üblichen Mechanismen, die Gewerkschaften im Umgang mit Problemen am Arbeitsplatz einsetzen. Die beschleunigte Schlichtung, bei der eine Gewerkschaft bei der zuständigen Behörde von Ontario (Labour Relations Board) beantragen kann, einen Schlichter zu ernennen und innerhalb von 30 Tagen eine Anhörung stattfinden zu lassen, wird derzeit nicht angewendet. Das OLRB antwortet regelmäßig nicht auf Anträge, weshalb diese Bestimmung ebenso gut nicht existieren könnte. Eine Anweisung zur Durchführung unsicherer Arbeiten kann in normalen Zeiten mit Ablehnung und einer Kontaktaufnahme beim Arbeitsministerium zur Durchführung einer Untersuchung und Feststellung der Sicherheit dieser Arbeit beantwortet werden. Seit COVID-19 ruft das Arbeitsministerium an, spricht mit der Unternehmensleitung, dann mit der/dem Beschäftigten und sagt dann durchwegs, dass alles in Ordnung sei. Die Arbeitgeber ignorieren Beschwerden einfach, weil sie wissen, dass sie es können. Gewerkschaftsvertreter haben keinen Zugang, da sie als „nicht notwendige Besucher“ eingestuft werden.
„Die Arbeitgeber ignorieren Beschwerden einfach, weil sie wissen, dass sie es können. Gewerkschaftsvertreter haben keinen Zugang, da sie als „nicht notwendige Besucher“ eingestuft werden.“
Für einige Arbeitsstätten ist dies katastrophal. Ohne den Besuch eines Personalvertreters und ohne Beschwerdesitzungen entsteht das Gefühl, dass die Gewerkschaft im Moment nicht existiert. Manager erzählen den Arbeitnehmer*innen Dinge wie: „Die Gewerkschaft kann Ihnen nicht helfen, sie sind erst nach der Pandemie wieder relevant“. Mitglieder rufen ihre Personalvertreter an und bitten sie, etwas zu tun um zu helfen und nichts geschieht, da die gewohnten Methoden alle auf Eis gelegt sind.
Für andere Arbeitsstätten ist es jedoch eine Chance, Fortschritte zu machen und auf den Errungenschaften der Vergangenheit aufzubauen. Diese Bereiche wenden zwar das Beschwerdeverfahren an, verlassen sich aber nicht allein darauf, um etwas zu erreichen. Einige können auf eine längere Geschichte direkter Aktionen zurückblicken, andere lassen zum ersten Mal ihre Muskeln spielen, aber alle erreichen da wo sie arbeiten, positive Veränderungen.
Ich möchte zwei ihrer Geschichten erzählen. Die eine handelt von einer Arbeitsstätte, die eine Geschichte der direkten Aktion hat, an der anderen werden sich die Kolleg*innen gerade ihrer Macht bewusst. Beide Arbeitgeber sollen ungenannt bleiben.
Zeitplanung und Arbeitseinteilung
Das erste ist ein Pflegeheim, das in der Vergangenheit durch gemeinsame Aktionen Erfolge erzielt hat. Sie hatten z.B. die Bewohner*innen und ihre Familien mobilisiert, um gemeinsam mit ihnen gegen unpopuläre Managemententscheidungen wie die Vergabe von Aufträgen an Dritte vorzugehen. Vor COVID taten sie sich mehrmals zusammen um zu verhindern, dass der Arbeitgeber freie Vollzeitstellen durch zusätzliche Teilzeitschichten auffängt. In einer Reihe von Fällen, in denen ein Beschäftigter in ungerechtfertigter Weise entlassen wurde, hatten sie sich kollektiv geweigert, die ausfallenden Schichten zu übernehmen, um dem Arbeitgeber eine Ansage zu machen. In einigen Fällen wurde der suspendierte Arbeitnehmer vor dem Ende der Suspendierung wieder zurückgeholt, um den Personalbestand aufrechtzuerhalten.
Die Beschäftigten in diesem Pflegeheim erreichten Erfolge trotz der derzeitigen Aussetzung großer Teile ihres Kollektivvertrags. Eines der Elemente der Notstandserklärung ist eine Anordnung, die besagt, dass alle Beschäftigten im Gesundheitswesen nur für einen Arbeitgeber arbeiten dürfen. Als eine Führungskraft versuchte, die Notstandserklärung zu nutzen, um einen äußerst unbeliebten 12-Stunden-Schichtplan einzuführen, schlossen sich mehr als die Hälfte der betroffenen Beschäftigten zusammen und sagten ihrer Führungskraft, dass sie sich in diesem Fall dafür entscheiden würden, in einer anderen Gesundheitseinrichtung zu arbeiten, was die Führungskraft zwang, ihre Entscheidung rückgängig zu machen.
In einem anderen Beispiel wurden Kolleg*innen während ihrer Schicht durch die Einrichtung rotiert, von einer Nicht-COVID-Einheit zu einer Einheit mit einem Ausbruch und dann während derselben Schicht wieder zurück zu der Nicht-COVID-Einheit. Nach einer kurzen Diskussion mit dem Management wurde ihnen mit Kündigung wegen Verlassen des Arbeitsplatzes gedroht, wenn sie sich weigerten, in derselben Schicht zu einer Nicht-COVID-Einheit zurückzukehren. Nachdem sie die Situation untereinander besprochen hatten, kehrten sie mit einem Ultimatum zu ihrem Vorgesetzten zurück – entweder hört das Hin und Her zwischen den Einheiten sofort auf, oder jede/r Beschäftigte, die/der während derselben Schicht in eine Nicht-COVID-Einheit zurückgeschickt wird, würde die Gesundheitsverwaltung anrufen und eine COVID-Belastung melden. Sie taten dies im Wissen, dass die Gesundheitsverwaltung sie 14 Tage lang unter Quarantäne stellen würde, bevor sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren dürften, was für den Vorgesetzten dann ein großes Personalproblem darstellt. Durch die Zusammenarbeit konnten sie ihre Ziele trotz des Abbaus des Beschwerdeverfahrens erreichen.
PPE (Persönliche Schutzausrüstung)
In einer anderen Arbeitsstätte, einer ohne eine Geschichte direkter Aktionen, begannen die Arbeiter*innen, ihre Macht zu erkennen. Als der Notstand erklärt wurde, sagten die Manager den Gewerkschaftsvertretern, dass die Gewerkschaft nicht mehr relevant sei und erst nach der Pandemie wieder sein werde. Die Beschwerden wurden abgeheftet und ignoriert. Die Gewerkschaftsvertreter wandten sich an die Unternehmensleitung, um über die Probleme zu sprechen, doch man sagte ihnen, sie sollten gehen und nach der Pandemie wiederkommen. Da sie nicht warten wollten, bis diese dringenden Probleme irgendwann entschieden werden, brauchten diese Kolleg*innen einen anderen Plan. Sitzungen wurden abgehalten (natürlich virtuell) und ein Aktionsplan vereinbart.
Der erste Punkt auf der Agenda war für diese Kolleg*innen der Zugang zu PPE. Der Chief Medical Officer of Health (CMOH) hatte angeordnet, dass die PPE leicht zugänglich sein sollten, aber ihr Arbeitgeber legte eine Menge Hindernisse in den Weg. Bei Ankunft am Arbeitsplatz wurde ihnen eine Einweg-Maske zur Verfügung gestellt und wenn sie eine weitere Maske oder eine N95-Maske oder Kittel und Handschuhe benötigten, mussten sie sich an einen Manager wenden und diese anfordern. Dann gab es erst eine Menge Fragen und der Manager versuchte immer, sie davon abzubringen. Mehrmals wurde ihnen gesagt, dass eine N95-Maske 7 Dollar kostet – was die letzte Überlegung sein sollte, wenn es um Sicherheit geht. Zufälligerweise war der Manager, der mit der Aufsicht und der widerwilligen Ausgabe der PPE am Abend beauftragt war, nicht selbst im Gesundheitswesen tätig, sondern leistete eine unterstützende Hilfsfunktion. Eines Abends kamen zwei Arbeiter*innen auf ihn zu und baten um zusätzliche PPE, was abgelehnt wurde. Einer der Arbeiter überreichte dem Manager eine Kopie einer der CMOH-Richtlinien, die ausdrücklich alle nicht unbedingt notwendigen Besucher und Beschäftigte aus Langzeitpflegeheimen ausschließt. Der Manager fragte, warum dies relevant sei, und der andere Arbeiter sagte: „Wir sind hier zu dritt, aber nur zwei von uns sind unbedingt notwendige Mitarbeiter. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wir und alle anderen, die Sie darum bitten, bekommen unsere PPE, oder wir schicken Sie sofort nach Hause und rufen das Gesundheitsamt an, wenn Sie sich weigern zu gehen.“ Der Manager rief seinen Vorgesetzten an (und weckte ihn auf), und dieser kam nach unten, um zu versuchen, die Arbeitnehmer von der benötigten PPE abzubringen; aber sie blieben standhaft. Schließlich gab die Unternehmensleitung nach, und am nächsten Morgen wurde eine neue Richtlinie an alle Beschäftigten verschickt, in der ihnen mitgeteilt wurde, dass die PPE „aus größtmöglicher Vorsicht“ frei verteilt würde.
„Ein weiterer Hebel, den die Arbeiter*innen nutzten, sind die Medien.“
Ein weiterer Hebel, den die Arbeiter*innen nutzten, sind die Medien. Über ihren Arbeitsplatz wurde in letzter Zeit in den Nachrichten prominent berichtet, und das ist keine positive Sache. Das Management, das normalerweise versucht, den Einfluss der Medien auf ihr Unternehmen zu kontrollieren, hatte die Kontrolle über die Berichterstattung verloren. Die Kolleg*innen nutzten dies regelmäßig, um Entscheidungen des Managements bezüglich der Personalbesetzung und der Quarantäneeinhaltung in Frage zu stellen. Wenn die Unternehmensleitung eine Änderung durchführte, trafen sich die Beschäftigten zu einem virtuellen Meeting, um eine Frage zu beantworten: Ist das blöd oder sind die Sechs-Uhr-Nachrichten blöd? Diese Phrase hat auch im Betrieb ihren Weg gemacht und die Manager wussten nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Während einige Beschäftigte sich gegenüber den Medien zu Wort gemeldet haben, sind viele eher zurückhaltend, weshalb ein nicht im Betrieb angestellter Sprecher ausgewählt wurde, der den Medien Informationen über die Geschehnisse im Pflegeheim weitergab. Im Pausenraum gibt es einen Fernseher, der normalerweise auf einen der lokalen Nachrichtenkanäle eingestellt ist. Vor einigen Wochen blockierte jemand vom Management absichtlich alle Nachrichtenkanäle. Um das zu umgehen, veranstalteten die Kolleg*innen während ihrer Mittagspausen Facebook-Partys und saßen im Pausenraum im Abstand von zwei Metern mit aufgedrehter Lautstärke in der Kantine. Das Management fing an, Disziplin einzufordern, um, wie sie es ausdrücken, „die Ordnung bei der Arbeit wiederherzustellen“, aber es gibt wenig, was sie während einer Pandemie tun können, ohne sich selbst in eine schlimmere Situation zu bringen, als die in der sie bereits sind.
An dieser Arbeitsstätte lernte man die Kraft des direkten Handelns kennen und bekam einen Vorgeschmack auf ihre Macht im Betrieb. Neue Anführer*innen bilden sich am Arbeitsplatz heraus. Einige der „offiziellen“ Arbeitnehmerführer bleiben auf der Strecke, während andere die Führungsrolle in kollektiven direkten Aktionen am Arbeitsplatz übernehmen.
Lektionen
Die Schlussfolgerung, die daraus gezogen werden kann, ist einfach. Kollektivverträge, Beschwerden, Schlichtungen und offizielle Gewerkschaftskanäle können genutzt werden, um den Schaden zu mildern, den ein schlechter Arbeitgeber den Arbeitnehmern zufügen kann, aber das reicht nicht, um mit allem fertig werden. Diese Möglichkeiten sind nicht nur absichtlich unvollkommen, sondern können von der jeweiligen Regierung sehr leicht ausgesetzt oder wirkungslos gemacht werden.
Beschwerden können verzögert werden – direkte kollektive Aktion nicht. Kollektivvereinbarungen können per Gesetz ausgehebelt werden, vorübergehend wie in diesem Fall oder dauerhaft wie in vielen anderen vergangenen Fällen – direkte kollektive Aktion nicht. Betriebe, die über ein Netzwerk oder eine bewährte Geschichte direkter kollektiver Aktion verfügen, geht es während der Pandemie wesentlich besser als Betrieben, die dies nicht haben.
Dieser Text heißt im englischen Original: „With Grievance Process Suspended, Health Care Workers turn to Direct Action“ und kann hier abgerufen werden.