Ein weiterer Beitrag der Angry Workers of the World zur aktuellen Krise aus klassenkämpferischer Pespektive. Zum Originalbeitrag kommt ihr hier.
Nun, das hängt davon ab. Bis vor drei Wochen hatte ich für einige Jahre in einer Lebensmittelfabrik in Park Royal im Westen Londons gearbeitet. Es handelt sich um einen riesigen Komplex mit Tausenden von Arbeiter*innen. Er besteht aus drei Fabriken und einem Lagerhaus, in dem 80% des britischen Hummus sowie Fertiggerichte und gekühlte Lebensmittel für alle großen Supermärkte hergestellt werden. Die Belegschaft in den Betrieben besteht zu fast 100% aus Migrant*innen und ist älter – die Mehrheit der Arbeiter*innen in meiner Fabrik war über 50 Jahre alt und eine bedeutende Minderheit über 60 Jahre. Viele von ihnen haben gesundheitliche Probleme, die damit zusammenhängen, dass sie arm sind, jahrelang manuelle, rückenschädigende Arbeit verrichten, in überfüllten Unterkünften leben und eine schädliche Lebensweise wie Alkoholismus und Kautabak (unter Männern) haben.
Diese Arbeitskräfte werden nun als „essentiell“ angesehen, damit die Regale in unseren Supermärkten gefüllt bleiben. Man könnte zwar argumentieren, dass Fertiggerichte vielleicht nicht wirklich „unverzichtbar“ sind, da wir jetzt, wo wir so viel Zeit zu Hause haben, wahrscheinlich verdammt nochmal selbst kochen könnten. Allerdings liefern Fahrer*innen der Supermärkte solche Mahlzeiten an ältere und gefährdete Menschen nach Hause. Früher wurde diese Arbeit vom Gemeinderat über die Sozialdienste geleistet, aber Supermärkte springen ebenso ein. Doch trotz der Bedeutung von Fertiggerichten sind die Arbeiter*innen, die diese herstellen, einem erhöhten Risiko ausgesetzt, wenn es um die Auswirkungen des Corona-Virus‘ geht.
Was können Arbeiter*innen in dieser Situation also tun? Sie gehen weiter zur Arbeit, aber man würde erwarten, dass zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden: dass der Abstand von zwei Metern auf dem Fließband eingehalten wird, dass die Leute Masken erhalten, dass die Pausen gestaffelt sind, damit der Abstand in der kleinen Kantine eingehalten werden kann. Nichts davon wird jedoch getan.
Ex-Arbeitskolleg*innen haben mir gesagt, dass die Fließbänder wie üblich laufen. Zwei Meter Abstand wäre auf Fließbändern (die vorher 25 und dann nur 4 oder 5 Personen umfassen würden) äußerst schwierig durchzusetzen. Denn an diesem Arbeitsplatz haben Schnelligkeit und Auftragserteilung oberste Priorität.
Dieses Bild wurde diese Woche in der Kantine aufgenommen. Früher gab es an diesem Arbeitsplatz zwei Kantinen, aber eine wurde ohne Rücksprache mit der Belegschaft geschlossen. Manchmal ist es schwierig, überhaupt einen Platz zum Mittagessen zu bekommen. Zu den besten Zeiten schon völlig unzureichend, aber jetzt ist es noch schlimmer. Hier scheint es keine Maßnahmen zum Abstandhalten zu geben!
In einer ähnlichen Situation befanden sich die Beschäftigten des Geflügelwerks Moy Park in Nordirland, die diese Woche kurz das Werk verließen, um dagegen zu protestieren, dass ihr multinationaler Arbeitgeber keine Maßnahmen zum Schutz seiner Beschäftigten ergriffen hatte. [1] Eine viel jüngere Belegschaft hatte sich draußen versammelt und gefordert, dass ihre Sicherheit an erster Stelle steht. Warum geschah das dort und nicht in meiner Fabrik? Es gibt eine Reihe von strukturellen Zwängen, die die Arbeiter*innen daran hindern, sich selbstbewusst genug zu fühlen, um sich zu wehren:
1. Eine Kultur des Mobbings. An dieser Art von prekären Arbeitsplätzen, wo oft Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten, herrscht oft eine Mischung aus Mobbing und Peitschenhieben anstatt von Zuckerbrot und Peitsche. Eine Frau mit einer bestehenden Erkrankung war gezwungen, sich innerhalb von sechs Monaten zweimal in die Hose zu pinkeln, weil sie nicht die Erlaubnis erhielt, aufs Klo zu gehen. Warum ist sie nicht einfach gegangen? Das zeigt um was für einen Arbeitsplatz es sich handelt, wenn (weibliche) Mitarbeiter*innen das Gefühl haben, dass sie den Raum selbst in einem Notfall nicht einfach verlassen können.
2. Die Menschen sind auf Überstunden angewiesen – zum Teil, um ihre Lebenshaltungskosten in London zu decken, und zum Teil, um die Einkommensschwelle von mindestens 18.600 Pfund pro Jahr zu erreichen, um ein Familienmitglied nach Großbritannien zu bringen. Einwanderungsbestimmungen wie diese dienen nur dazu, die Menschen dazu zu drängen, schlechte Bezahlung und Bedingungen zu akzeptieren, anstatt die Zahl der Überstunden tatsächlich zu begrenzen. Wenn mehr als 40 Stunden gearbeitet wird, beträgt der Stundenlohn das 1 1/2fache, d.h. die meisten Menschen verdienen nur durch eine 50-60-Stunden-Woche tatsächlich genug Geld zum Überleben. Wer Überstunden machen „darf“, wird willkürlich von den Managern entschieden – ein gutes Disziplinierungsinstrument, denn es lohnt sich bei ihren gut angeschrieben zu sein.
3. Warum organisieren sich die Arbeiter*innen nicht einfach gewerkschaftlich? Nun, Überraschung, es gibt eine Gewerkschaft, GMB, die offiziell anerkannt ist. Allerdings können sich die Arbeiter*innen nicht auf eine Gewerkschaft verlassen, die die Belegschaft weiterhin im Stich lässt: Seit zwölf Jahren ist sie anerkannt und dennoch verdienen Arbeiter*innen, die seit 20 Jahren im Unternehmen beschäftigt sind, nur 16 Pence über dem Mindestlohn. Die GMB unterstützte ein System zur Einstufung von Qualifikationen, das die Belegschaft vor allem nach Geschlecht aufteilt. Die Vertreter*innen sind nutzlos und könnten sich noch nicht einmal aus einer Papiertüte herauskämpfen. Wenn wir uns darauf verlassen, dass diese Art von korrupten Strukturen den Beschäftigten Vertrauen geben, werden wir lange warten…
So schlimm das alles auch klingt, diese Verhältnisse sind an vielen Arbeitsplätzen in Großbritannien nicht ungewöhnlich. Sie geraten normalerweise nicht in die Schlagzeilen, weil niemand auf den Toiletten entbindet und man keinen bösen und öffentlich bekannten CEO wie Phillip Green oder Mike Ashley hat. Nichts, was an diesem Arbeitsplatz passiert, ist genau genommen illegal. Das Vertrauen auf das Gesetz ist also ein Reinfall. Die Arbeiter*innen sind fest angestellt und haben daher nur dann Anspruch auf die gesetzliche Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, wenn sie Symptome des Corona-Virus aufweisen und sich selbst isolieren müssen. Das ist es, wofür sich die Beschäftigten in meiner Fabrik zunehmend entscheiden, um sich nicht selbst und ihre Familienmitglieder zu gefährden.
Es ist der Mangel an betrieblicher Handlungsmacht, der dazu führt, dass eine entrechtete und verängstigte Belegschaft individuelle Schutzmaßnahmen über die kollektiven Maßnahmen hinaus ergreift. Das muss sich ändern! Ein Handeln, dass das Potential, das die Corona-Krise mit sich bringen könnte, nutzt, – damit die Arbeiter*innen endlich ihren Wert einfordern – findet normalerweise nicht in einem Vakuum statt. Wie können wir erwarten, dass Beschäftigte in einer so prekären Situation (selbst als Festangestellte) aufstehen und anfangen, ihre Stimme zu erheben, wenn es keine Kultur und Erfahrung des Zusammenstehens und Gewinnens gibt?
Aus diesem Grund konzentriert sich AngryWorkers auf diese Art von Arbeitsplätzen: eine große Anzahl von Arbeiter*innen, jedoch keine wirklichen Strukturen der Bosse, um Widerstand zu bekämpfen. Abgesehen von einigen Berichten über „diese armen Arbeiter*innen!“ werden diese Art von Arbeitsplätzen von der Linken oft vernachlässigt. Und das trotz ihrer enormen Bedeutung für das materielle Überleben der Gesellschaft und damit für den Kampf um soziale Emanzipation. Wir sollten Verbindungen zu den Arbeiter*innen innerhalb dieser Arbeitsplätze aufbauen, um einen Einblick zu erhalten, wie wir unsere potentielle kollektive Stärke zu unserem strategischen Vorteil nutzen können, um eine Welt jenseits des Kapitalismus aufzubauen!
Das zentrale Kapitel unseres Buches „Class Power on Zero-Hours“ beschreibt die Bedingungen in diesem Fabrikkomplex im Westen Londons und liefert eine detaillierte Darstellung einer sechsmonatigen Lohnkampagne für 1 Pfund mehr für alle, die Herausforderungen und Potentiale. Eine unverzichtbare Lektüre für alle Aktivist*innen am Arbeitsplatz und die Genoss*innen, die sich die Hände schmutzig machen wollen.
Anstehende Veranstaltungen
- Es sind keine anstehenden Veranstaltungen vorhanden.