AngryWorkers: Das Covid-19 Regime und die Arbeiter*innenklasse: Potenziale der Einheit vs. Neue Spaltungen

on Juni 5, 2020 Uncategorized with 0 comments

Ein weiterer Beitrag der Angry Workers of the World, zum Original-Beitrag kommt ihr hier.

Das Covid-19 Regime und die Arbeiter*innenklasse: Potenziale der Einheit vs. Neue Spaltungen

Veröffentlicht am 30. April 2020 von den Angry Workers of the World

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Anfang April schrieben wir eine politische Zusammenfassung einiger der globalen Kämpfe der Arbeiter*innenklasse unter dem Covid-19-Regime. [1] Wir möchten noch einmal betonen, dass es letztlich von diesen Kämpfen abhängen wird, ob die gegenwärtige Krise zu tieferen Spaltungen innerhalb der globalen Arbeiter*innenklasse oder zu einer Vereinigung führen wird.

Dennoch können wir einige der materiellen Grenzen und Begrenzungen analysieren, in denen diese Kämpfe stattfinden, die durch die Besonderheiten nationaler Märkte, die spezifischen sektoralen Bedingungen oder staatliche Interventionen gesetzt sind. Hier sehen wir einen Unterschied zwischen Spaltungen als Ergebnis von „Marktbewegungen“ und solchen, die sich aus einer gezielten staatlichen Politik ergeben. Unsere Hauptfrage lautet: Wo vertiefen sich die Spaltungen und wo werden sie geschwächt?

Wir halten diese Zusammenfassung bewusst kurz und schematisch, um weitere Diskussionen zu erleichtern. Wir sehen sie als Teil unserer Zusammenarbeit im Rahmen der internationalistischen Website: www.feverstruggle.net

1) Technokratische Kontrolle über die Kernsektoren und die Peripherie

Die Art und Weise, wie der moderne Staat und die Industrie mit der Covid-19-Krise umgegangen sind, beruht auf ihrer technokratischen Zusammenarbeit und ihrer Finanzkraft. Festangestellte Beschäftigte in der Automobilindustrie, z.B. in Deutschland und Frankreich, erhielten relativ hoch bezahlte Kurzarbeit [2] und Porsche und VW in Deutschland zahlten in der Spitzenzeit der Abriegelung jeder Arbeiter*in etwa 8.000 bis 10.000 Euro Jahresbonus. Damit bleibt die bereits bestehende Aufteilung zwischen der Stammbelegschaft einerseits und den Arbeiter*innen mit Zeitverträgen sowie in der Automobilzulieferindustrie andererseits erhalten. Die deutsche Regierung kündigte eine Anhebung der allgemeinen Zahlung für Arbeiter*innen bei „Kurzarbeit“ an und die Arbeiter*innen mit diesen höheren Löhnen profitieren nun aufgrund steuerlicher Regelungen noch stärker von der Erhöhung. Die Weiterbeschäftigung von Arbeiter*innen in der Automobilindustrie ist nicht nur eine Taktik des „Teile und Herrsche“. Die interne Struktur der Industrie beruht auf der Reproduktion einer recht qualifizierten Arbeitskraft, die nicht als Saisonarbeit oder durch ersetzbare Arbeitskräfte erledigt werden kann. Hier sehen wir sektorale Trennungen zwischen Arbeiter*innen z.B. in der komplexen Fertigung auf der einen Seite und Restaurants, Einzelhandel und Tourismus auf der anderen Seite. Es ist auch fragwürdig, dass die Beschäftigung in der Kernindustrie als Privileg angesehen werden kann, da sie mit einem technokratischen Paternalismus verbunden ist, der auf der kombinierten Kontrolle von Management und Gewerkschaften über die Arbeiter*innen beruht. So haben nach einer Vereinbarung zwischen der VW-Führung und der IG Metall am 27. April 2020 63.000 Beschäftigte im Stammwerk Wolfsburg die Arbeit wieder aufgenommen – unter Gefährdung ihrer Gesundheit. [3] Darüber hinaus muss die Position der exportorientierten deutschen Automobilindustrie und der in ihr Beschäftigten im internationalen Kontext betrachtet werden. In der aktuellen Auseinandersetzung zwischen der Bundesregierung und den krisengeschüttelten EU-Staaten wie Italien, Griechenland und Spanien verteidigt die deutsche Bundesregierung das Interesse der hiesigen Industrie an einem stabilen und abgewerteten Euro gegenüber dem Bedürfnis der südlichen EU-Staaten nach einer Lockerung der Geldpolitik. Die Beschäftigten in den Kernsektoren in Deutschland vergleichen ihre Situation und auch die Beschäftigten im Süden, z.B. werden die Nissan-Arbeiter in der Nähe von Barcelona, die gerade gegen die drohende endgültige Werksschließung gestreikt haben, wissen, wie ihr Zustand im Vergleich zu ihren deutschen Kolleg*innen aussieht. [4] Dies ist der materielle Kontext für die „antideutsche“ Propaganda der politischen Klasse in Italien, die in der lokalen Arbeiter*innenklasse Widerhall findet. Das ‚deutsche Modell‘ der staatlichen Kontrolle über die Kernsektoren und die internationale Peripherie drückt sich auch in der massenhaften Anwerbung, Eindämmung, Isolierung und Verwaltung von Tausenden von Saisonarbeiter*innen aus Rumänien aus, die in der deutschen Landwirtschaft beschäftigt sind.

2) Trennung zwischen manuellen und intellektuellen Arbeiter*innen

Aufgrund des eigentümlichen Charakters dieser (Gesundheits-)Krise wird die Trennung zwischen manuellen und intellektuellen Arbeiter*innen zumindest anfänglich dadurch vertieft, dass viele „intellektuelle“ Arbeiter*innen von zu Hause aus arbeiten können, während viele manuelle Arbeiter*innen dies nicht können. Diese Spaltung wird weiter vertieft durch die allgemeinen Unterschiede im Einkommensniveau und die daraus resultierende Ungleichheit bei den (beengten) Wohnverhältnissen oder der medizinischen, Versorgung je nach Wohnort. Dies kann sehr krass und oberflächlich ausgedrückt werden, wie es „The Economist“ für die Situation in den USA getan hat: „Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass Arbeiter*innen, die mehr als 70.000 Dollar pro Jahr verdienen, mehr als 60% ihrer Arbeitsaufgaben von zu Hause aus erledigen können; bei denjenigen, die weniger als 40.000 Dollar verdienen, sind es weniger als 40%. [5]

Dieses Bild wird etwas komplexer, wenn wir sehen, dass sich in vielen Regionen diese Unterschiede auch in Bezug auf „einheimische“ und „Wanderarbeiter“ überlagern, da mehr Wanderarbeiter in schlechter bezahlten manuellen Tätigkeiten beschäftigt werden oder in Bezug auf rassistische Spaltungen innerhalb der Klasse. Hier teilen die Arbeiter*innenviertel in den Innenstädten der USA oder die Banlieus in Frankreich ein ähnliches Schicksal. Wir können auch sehen, dass sich die Formen der Kontrolle und des Zwangs über die Arbeiter*innen von denen unterscheiden, die über die intellektuellen Arbeiter*innen ausgeübt werden. Wesentliche Arbeiter*innen in der US-Fleischindustrie, die früher vielleicht von der Öffentlichkeit als Helden gefeiert wurden, sind jetzt mit der Bedrohung durch direkten staatlichen Zwang in Form des „Defense Production Act“ konfrontiert, der sie zur Wiederaufnahme der Arbeit drängen soll. Die Arbeiter*innen in einigen Betrieben haben mit wilden Arbeitsniederlegungen reagiert. [6] Der Druck auf die Beschäftigten wird durch den enormen Konzentrationsprozess in der Industrie noch verstärkt, z.B. liefert die Fleischverarbeitungsfabrik von Tyson Foods in Paco täglich Fleisch für vier Millionen Menschen. Staatliche Interventionen zielen auch auf Beschäftigte im Gesundheitswesen ab, z.B. nachdem 19 Patient*innen in einem Pflegeheim in Pennsylvania an COVID-19 starben und Krankenschwestern streikten, um gegen unsichere Bedingungen zu protestieren, schickte der demokratische Gouverneur Tom Wolfe die Nationalgarde, um die Einrichtung zu bewachen. Dies war eine Drohung, die auch auf andere Einrichtungen, in denen Krankenschwestern streiken, angewendet werden könnte. [7] Die meisten „Intellektuellen“ oder Büroangestellten sind vielleicht weniger direkten Formen von Zwang ausgesetzt, aber wir können die Verbreitung technologischer Veränderungen beobachten, um die Kontrolle über ihre Fernarbeit zu verschärfen. Zum Beispiel nutzt der italienische Staat die Krise, um die Digitalisierung der Verwaltungsarbeit im öffentlichen Sektor zu beschleunigen [8] und die Beschäftigten im Bildungswesen sowie bei den Telediensten müssen sich mit einer Zunahme der Telearbeit von zu Hause aus auseinandersetzen (obwohl wir von allgemein niedrigeren Produktivitätsraten wissen). In jüngster Zeit haben wir erlebt, wie Tech-Arbeiter*innen aus Solidarität mit entlassenen Lagerarbeiter*innenn auf der ganzen Welt die Arbeit für einen Tag niedergelegt haben. In der politischen Gesamtsituation können die konkreten materiellen Unterschiede zwischen „intellektuellen und manuellen“ Arbeiter*innenn an Bedeutung verlieren und der gemeinsame Kampf wird zum bestimmenden Faktor. [9]

3) Arbeitsmarktkontrolle und Staatsbürgerschaft

Eine weitere wichtige staatliche Intervention, wenn es um die Kontrolle weitgehend manueller Arbeit geht, wird durch das Migrationsregime erzwungen. In den meisten Fällen führt dies zu einer Neueinteilung der Arbeitskräfte nach ihrem Staatsangehörigkeitsstatus – obwohl wir in den Fällen der Binnenmigration in China und Indien sehen können, dass der brutale Umgang des Staates mit Migrant*innen nicht in erster Linie eine Frage des Nationalismus, sondern der Kontrolle der Arbeit ist. [10] Bei der internationalen Migration können wir sehen, wie der Staat in Deutschland, Italien und Großbritannien Wege findet, mit dem Arbeitskräftemangel umzugehen, insbesondere in der Landwirtschaft. Kurzfristige Verträge und soziale Isolation werden auch als biopolitische Maßnahmen für die öffentliche Gesundheit gerechtfertigt. In anderen Teilen der Welt hat die Arbeitsmigration eine größere Bedeutung für die lokale Wirtschaft und die Klassenzusammensetzung, wie z.B. in den Vereinigten Arabischen Emiraten, die kürzlich vom Rückgang der Ölpreise betroffen waren. Kerala [Bundesstaat in Indien], das derzeit von der Linken als der „kommunistische“ Vorbildstaat dargestellt wird, wenn es um die Behandlung von Covid-19 geht, hängt vollständig von den Überweisungen von 2,1 Millionen „keralanischen“ Arbeiter*innen in den Golfstaaten ab. Daher kann das lokale Gesundheitssystem nicht von den Bomben auf den Jemen losgelöst gedacht werden. In den Emiraten ist die Wirtschaft in einem solchen Maße von Migrant*innen abhängig, so dass Massenabschiebungen nicht in Frage kommen. Daher zwingt der Staat die Unternehmen, die entlassenen Arbeitskräfte vorerst unterzubringen und zu bezahlen, aber es ist eine Frage der Zeit, bis eine ausgeklügeltere Politik des Teile-und-Herrsche einsetzt, um das Arbeitskräfteangebot an die gesunkene Nachfrage anzupassen. Die jüngsten Aktionen von Wanderarbeiter*innen auf der ganzen Welt – von Mexiko bis Polen – zeigen, dass diese Maßnahmen nicht unumstritten sein werden. Im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Polen protestierten Hunderte von Arbeiter*innen, die in Polen leben und in Deutschland arbeiten, gegen die Quarantänemaßnahmen des polnischen Staates, der nach jedem Besuch in Deutschland eine zweiwöchige Quarantäne verhängt. [11] Wanderarbeiter*innen sahen sich in Calais (Frankreich) mit der Polizei konfrontiert, als die Polizei sie schikanierten. [12] und in Moria und Chios (Griechenland). [13]

4) Die Situation in der „informellen Wirtschaft“.

Beschäftigte im „informellen Sektor“, die weder Zugang zu betrieblichen Leistungen noch zu (ausreichender) staatlicher Fürsorge haben, sind von der Wirtschaftskrise am stärksten betroffen. Die IAO spricht von weltweit etwa 1,6 Milliarden Arbeitslosen. Zwei Milliarden Proletarier*innen im informellen Sektor werden große Teile ihres Einkommens verlieren. Sie berechnen, dass im ersten Monat der Krise das Einkommen der Beschäftigten im informellen Sektor in Afrika und Amerika um 81% geschrumpft ist. 14] Hier sehen wir eine sich vertiefende materielle Ungleichheit innerhalb der Klasse, sowohl regional – da der informelle Sektor in Regionen wie Afrika und Lateinamerika dominanter ist – als auch lokal, da andere Arbeiter*innen Zugang zu Betriebsrenten oder Arbeitslosengeld haben könnten. In Indien zum Beispiel sind die meisten Bauarbeiter nicht als „Arbeiter“ registriert und haben daher Probleme beim Zugang zu staatlichen Leistungen. [15]

Es ist daher wahrscheinlich, dass sich der Kampf der Beschäftigten des öffentlichen Sektors gegen die Privatisierung und „Informalisierung“ der Unternehmen, für die sie arbeiten, intensivieren wird, da die Beschäftigten wissen, dass der Zugang zu staatlichen Leistungen häufig an den Arbeitsplatz im öffentlichen Sektor gebunden ist. Die jüngsten Streiks gegen die Minenprivatisierung im Iran sind ein Beispiel dafür. [16] Der Staat nutzt die Situation auch, um die informellen Unterkünfte der örtlichen Arbeiter*innenklasse anzugreifen. Es hat eine Zunahme der Slumabrisse von Pakistan über Südafrika bis Haiti gegeben. [17] Einige der heftigsten Zusammenstöße mit der Polizei haben mit dem informellen Status der beteiligten Proletarier*innen zu tun, von Sexarbeiterinnen [18] über Marktfrauen [19] bis hin zu lokalen Jugendlichen, die im Senegal randalieren, nachdem die Polizei während der Ausgangssperre einen jungen Proletarier getötet hat. [20] Das politische Problem besteht darin, dass die Situation ein „gemeinsames Interesse“ zwischen armen Proletarier*innen, die zur Arbeit gehen oder mit ihren Waren hausieren gehen müssen, und dem Kleinbürgertum schafft, das verzweifelt versucht, ihre Kleinunternehmen am Leben zu erhalten.

5) Spaltung zwischen der Arbeiter*innenklasse und dem Kleinbürgertum

Wir müssen die Klassenzusammensetzung und den politischen Verlauf der jüngsten „Antiblockade“-Proteste der Rechten in den USA und anderen Staaten verstehen – und was sie mit den Protesten der Proletarier*innen im erwähnten informellen Sektor gemeinsam haben oder auch nicht. In den USA – und vielleicht auch in Brasilien – scheint es, dass die Covid-19-Krise das Wahlbündnis der rechtsradikalen Regierung, die aus marginalisierten „Arbeitern“ und dem Kleinbürgertum besteht, zerbricht. [21] Die Geschäftsinteressen des Kleinbürgertums stehen im Einklang mit ihrem ‚libertären antikommunistischen Protest‘. Während ideologisch viele Trump-wählende Arbeiter*innen eine libertäre Position gegen den Bundesstaat und die gesetzliche Abriegelung unterstützen könnten, erkennen sie auch, dass sie als ‚Front- oder Industriearbeiter*innen‘ die Hauptopfer der Covid-19-Pandemie sind. Angesichts einer ähnlichen Situation in Brasilien erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass Bolsonaros jüngste Ankündigung, eine Art bedingungsloses Grundeinkommen zu zahlen, ein Versuch ist, die Risse in diesem Bündnis zu überspielen.

6) Unterschiedliche Bedingungen für Arbeiter*innen in großen und kleinen Unternehmen

Der Tendenz einer akuten Interessendivergenz zwischen Arbeiter*innen und Kleinbürgertum während der oben beschriebenen Pandemie wird durch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf kleine Unternehmen – und die von ihnen beschäftigten Arbeiter*innen – entgegengewirkt. Untersuchungen zeigen, dass bis zu einer Million britischer Firmen innerhalb der nächsten vier Wochen das Geld ausgehen wird, wodurch etwa 4 Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren werden. [22] Die Gefahr ähnlicher Insolvenzen kleiner Unternehmen ist in den USA zu spüren. Trotz staatlicher Darlehensprogramme scheinen die Banken den Eigentümer*innen kleiner Unternehmen immer noch den Zugang zu ihnen zu erschweren. [23] Dies ist eine beträchtliche Lobby, die versuchen wird, „ihre Angestellten“ politisch zu mobilisieren. Mit der sehr realen Möglichkeit einer Dezimierung dieser eher kleinbürgerlichen Schicht geht der parallele Trend einher, dass größere Unternehmen wie Amazon noch größer werden und die überschüssigen Arbeitskräfte aufsaugen, die jetzt den Arbeitsmarkt überschwemmen. Die Klassenimplikationen, die sich daraus ergeben, sind im Hinblick auf verschiedene Faktoren erheblich, wie z.B. Größe der Arbeitsplätze und Belegschaften, die ein politisches Risiko für die Unternehmen und neue Chancen für die Arbeiter*innen darstellen.

7) Trennung zwischen Wohneigentum und Miete der Arbeiter*innenklasse

Dies könnte eine britische Besonderheit sein, wo die politische Integration der Arbeiter*innenklasse so sehr an die Frage des Wohneigentums gebunden war und ist. Wie in der Zeit nach der Finanzkrise von 2008 stellte der Staat sicher, dass er dem Segment der Eigenheimbesitzer*innen der Klasse signalisierte, dass sie bei Bedarf einen „Hypothekenurlaub“ erhalten würden, während den Mieter*innen ein solcher Schutz nicht gewährt wurde. Sogar die Labour-Partei hat kürzlich ihre „Opposition“ für ihre Forderung nach einem Schutz der Mieter*innen abgeschwächt. Ihre Politik hat sich nun von einer Aussetzung der Miete zu einer Stundung der Miete geändert. [24] Mietstreiks als Reaktion darauf werden zwar weithin publik gemacht, scheinen aber entweder auf bereits bestehenden Strukturen zu beruhen oder auf größere Vermieter und Verbände beschränkt zu sein.

8) Verschärfung der Krise der Arbeiter*innenfamilie

Die erhöhte finanzielle Belastung und die Eigenart der Krise verschärfen die Spaltung innerhalb der Familien der Arbeiter*innenklasse. Altenheime als Masseninhaftierung von weitgehend ärmeren Familienmitgliedern werden zu Todesfallen. Die interne Arbeitsteilung bei der Kinderbetreuung, die in vielen Fällen von den Großeltern abhängt, ist durch die Anforderungen des Einschlusses und der präventiven Maßnahmen bedroht. In Italien stiegen die Anrufe bei Notfallhotlines für häusliche Gewalt auf dem Höhepunkt der Pandemie um 75%. [25] Gleichzeitig könnten diese Krise und die Tatsache, dass eine umfassendere „gegenseitige Hilfe“ notwendig ist, um die Reproduktion des Familienlebens der Arbeiter*innenklasse aufrechtzuerhalten, dazu führen, dass mehr (nachbarschaftliche) Kollektivität auch über die Zeiten der akuten Pandemie hinaus gelebt wird.

9) Eine Zunahme der sektoralen Unterschiede und nachfolgende Veränderungen in den Hierarchien des internationalen Staatensystem

Regionen und Volkswirtschaften, die von bestimmten Exportgütern oder Einkünften aus einzelnen Wirtschaftszweigen wie dem Tourismus [26] abhängig sind, sind vom gegenwärtigen Einbruch am stärksten betroffen. Ob es sich um die Kupferbergbauindustrie in Sambia oder die Bekleidungsindustrie in Bangladesch [27] handelt, das Überleben von Millionen von Arbeiter*innen hängt direkt oder indirekt mit diesen hegemonialen nationalen Industrien zusammen. Diese Exportabhängigkeit spiegelt sich oft in monetärer Hinsicht als eine Abhängigkeit vom US-Dollar oder anderen „Weltwährungs“-Einkommen wider, z.B. zur Bezahlung von Nahrungsmittelimporten. Hier führte der Absturz der Ölpreise zu einem Kaufkrafteinbruch von Millionen von globalen Proletarier*innen und zu einer Staatsschuldenkrise für Nigeria, Irak, Ecuador und Venezuela – Länder, die ihre Staatshaushalte und Schuldenzahlungen mit 50 Dollar pro Barrel kalkuliert hatten und nun eine Halbierung ihres Einkommens erleben. [28] Gleichzeitig haben fünf der größten Getreideexporteure der Welt seit Beginn der Covid-19-Krise ihre Exporte eingeschränkt. 29] Diese Bedingungen führen bereits zu Massenrevolten vom Irak [30] über Somalia [31] bis nach Kolumbien. [32] Diese Bedingungen einer begrenzten lokalen industriellen und landwirtschaftlichen Basis setzen diesen Bewegungen, solange sie national isoliert bleiben, Grenzen, was ihre Fähigkeit betrifft, über die Forderungen nach weniger Korruption und besseren Lebensmittelsubventionen hinauszugehen. Gleichzeitig könnte die internationale Dimension dieser Proteste in der Lage sein, nationale strukturelle Beschränkungen zu überwinden – insbesondere wenn, und das ist nicht unwahrscheinlich, Giganten wie der russische Staat zunehmend ins Wanken geraten. [33]

10) Spaltungen auf der Grundlage früherer Kampferfahrungen

In Regionen, die vor dem Ausbruch der Covid-19-Krise Zeuge von „Volks-“ oder Arbeiter*innenbewegungen waren, haben die Staaten unterschiedlich auf Abriegelungsmaßnahmen reagiert. Die Tatsache, dass in Frankreich mehr Arbeiter*innen streiken und mehr Kinder gegen die Polizei revoltieren als in Großbritannien oder Deutschland, ist weniger auf Unterschiede in den unmittelbaren materiellen Bedingungen zurückzuführen, sondern hat eher mit früheren Kämpfen zu tun. In den meisten Regionen, in denen es vor der Krise Proteste gab, wie etwa in Haiti [34], Panama [35] oder Chile [36], nahmen die Kämpfe nach Ausbruch des Virus wieder zu. Im Libanon hat die Krise die finanzielle Situation mit einer Schuldenquote von 170% des BIP verschlechtert und diesmal haben die Proteste nicht nur das Vertrauen in die politische Klasse, sondern auch in die Armee verloren. [37] Die Streiks, die in den Maquiladoras in Mexiko wieder zugenommen haben, trafen diesmal die Zulieferkette der US-Automobilindustrie zu einer Zeit, in der die Arbeiter*innen in den USA selbst die Befehlsgewalt des Managements in Frage stellen. [38]

11) Die gegenwärtige Linke ist ein Hindernis in unseren Bemühungen, die Spaltungen zu verstehen und eine Strategie der Arbeiter*innenklasse zu entwickeln

Die Reaktion der Linken auf dieses komplexe Bild beschränkt sich auf die üblichen Parameter des reformistischen Opportunismus oder des ultralinken Voluntarismus. Die staatstragende Linke sieht die Staatsausgaben als Bestätigung „linker Politik“ und nicht als Krisenmanagement eines kapitalistischen Staates, das von seiner repressiven Funktion nicht losgelöst werden kann. Sie neigen nicht dazu, die Fähigkeit des US-amerikanischen oder britischen Staates, „Geld auf das Problem zu werfen“, als eng mit der tödlichen Schuldenkrise anderer Staaten verbunden zu sehen. Vor allem sind sie der Meinung, dass die verschiedenen Spaltungen innerhalb der Arbeiter*innenklasse durch allgemeine Forderungen überwunden werden können, und nicht durch einen riskanten und komplexen Prozess der Vereinigung durch gemeinsame Kämpfe. Die ultralinke Reaktion ignoriert die Herausforderung, die materielle Unterschiede für den Vereinigungsprozess darstellen, und feiert jeden einzelnen Kampf, als ob er durch „radikaler“ werden die Lösung enthalten würde.

Insgesamt denken wir, dass die soziale und materielle Macht des Staates, eine Taktik des „Teile und Herrsche“ durchzusetzen, durch die Krise geschwächt wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Arbeiter*innenklasse automatisch gestärkt wird, um innere Spaltungen zu überwinden. Im gegenwärtigen Augenblick können wir sehen, dass die „unmittelbaren Interessen“, die spezifischen Forderungen, die Arbeiter*innenklasse ebenso spalten wie sie sich verbinden. An die Arbeiter*innenklasse zu appellieren, sich zu vereinigen, allein auf der Grundlage, dass „wir einen gemeinsamen Feind haben“, wird nicht weit führen. Die revolutionäre Strategie muss die divergierenden materiellen Bedingungen der Kämpfe im Detail analysieren und die Unterschiede der einzigen materiellen Grundlage für die Vereinigung der Arbeiter*innenklasse gegenüberstellen: Die Übernahme der Produktionsmittel erfordert eine global konzertierte Anstrengung. Die Tatsache, dass sich die Arbeiter*innen für diese Anstrengung vereinigen müssen, ist nicht in erster Linie auf gemeinsame Interessen zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass der globale Produktionsapparat nicht stückweise übernommen werden kann. Die Grundlage für Solidarität ist unsere globale materielle Interdependenz. Dies ist die Grundlage eines kommunistischen Programms, das nicht auf der Geschichte oder auf Idealen beruht, sondern als ein Programm von Maßnahmen. [39]

Fußnoten:

[1] https://angryworkersworld.wordpress.com/2020/04/15/global-struggles-against-the-covid-19-regime-early-april/

2] In Frankreich einigten sich die Gewerkschaften und die Unternehmensleitung von PSA auf 100% Lohnzahlungen, d.h. 30% mehr als das gesetzliche Minimum, das 9 Millionen Beschäftigten bei offizieller Kurzarbeit gezahlt wird, während rund 2,5 Millionen Beschäftigte aufgrund irregulärer Beschäftigung nicht einmal das bekommen.

[3] https://www.wsws.org/de/articles/2020/04/27/vwwb-a27.html

[4] https://twitter.com/ridersxderechos/status/1253044233084305410?s=20

[5] https://www.economist.com/graphic-detail/2020/04/24/many-poor-americans-cant-afford-to-isolate-themselves

[6] https://www.theguardian.com/us-news/2020/apr/28/trump-executive-order-meat-processing-plants-coronavirus

7] https://paydayreport.com/defying-trumps-order-nebraska-meatpackers-strike-pa-national-guard-replaces-striking-nurses-richmond-threatens-to-fire-striking-nurses/

[8] https://publicservices.international/resources/news/lockdown-pushes-digitalisation-through-in-italian-public-services?id=10735&lang=en

[9] https://www.vice.com/en_us/article/n7jaaq/amazon-reinstates-fired-warehouse-worker-after-employees-strike

10] https://www.newindianexpress.com/nation/2020/apr/28/the-jean-dreze-interview-keeping-migrant-workers-from-returning-home-will-deepen-covid-19-financial-2136066.html-2136066.html

[11] https://twitter.com/WorkersAngry/status/1254461372328443904?s=20

[12] https://twitter.com/WorkersAngry/status/1253346541483556867?s=20

[13] https://twitter.com/revsoc21/status/1253290307627683840?s=20

14]

[15] https://www.newslaundry.com/2020/04/23/covid-19-relief-how-india-doesnt-count-the-poor-as-workers

[16] https://twitter.com/IranNW/status/1252223745852182528?s=20

[17] https://www.opendemocracy.net/en/beyond-trafficking-and-slavery/we-are-still-waiting-protesting-under-lockdown-in-south-africa/ https://twitter.com/WorkersAngry/status/1250698923968212992?s=20

[18] https://twitter.com/InvisiblesMuros/status/1255216977406242817?s=20

[19] https://twitter.com/HaitiInfoProj/status/1253390689032790016?s=20

[20] ]https://berthoalain.com/2020/04/20/coronavirus-couvre-feu-affrontements-a-batanko-kedougou-15-avril-2020/

[21] https://jacobinmag.com/2020/04/coronavirus-pandemic-lockdown-protests-ubi

[22] https://www.independent.co.uk/news/business/news/coronavirus-small-businesses-collapse-bust-research-a9440771.html

[23] https://www.bbc.co.uk/news/business-52043896

[24] http://www.gmhousingaction.com/labour-covid19-renters/

[25] https://twitter.com/WorkersAngry/status/1252608069965660161?s=20

[26] https://nuevocurso.org/turismo-cero/

[27] https://in.reuters.com/article/health-coronavirus-bangladesh-protests/bangladesh-textile-workers-flout-coronavirus-lockdown-to-demand-wages-idINKCN2280EM